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Der Abstieg in die Möbiushöhle

Der Abstieg in die Möbiushöhle published on 4 Kommentare zu Der Abstieg in die Möbiushöhle

Die im Jahr 1858 von Johann Möbius entdeckte und nach ihm benannte Möbiushöhle galt ihrer Enge, Verworrenheit und von keinem Licht zu beseitigenden Dunkelheit wegen für lange Zeit als völlig unerforschlich. Es wird mir darum ohne Zweifel zu einem gewissen Ruhm gereichen, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken darf, daß ich als erster den Mut faßte, mich allein und nur mit einem Garnknäuel als Ausrüstung in ihre bodensuchende Tiefe vorzuwagen. Die Expedition verlief gänzlich anders, als ich erwartet hatte, da ich unten ganz anderes fand, als ich vorher angenommen hatte.

Nachdem ich mich - ich weiß nicht wie lange, es mögen zwei Jahre gewesen sein - ins Dunkel hinabgearbeitet hatte, wurde es mit einem Mal wieder heller. Je näher ich dem Licht kam, desto weniger konnte ich mir erklären, woher es wohl stammen mochte; ein gelb-grünlicher Schimmer, der alle Gänge gleichmäßig erfüllte, ohne daß sein Ursprung irgendwo auszumachen gewesen wäre.

Etwas tiefer stieg ich noch hinab, der Lichtschein nahm zu, der Geruch von Leben begann, mir in die Nase zu steigen und bald traf ich auf den ersten Troglodyten, der mich etwas vedutzt ansah (wie ich auch ihn, so sagte er mir später, oder im Gegenteil), mir aber sogleich etwas zu essen und zu trinken anbot, was ich dankend annahm, und mich zu seinem Stamm führte.

Dort verbrachte ich etwa 10 Jahre, in denen mich die Troglodyten ihre Sprache und ihre Gebräuche lehrten. Und auf ihre Sprache möchte ich jetzt zu sprechen kommen, denn diese scheint mir ganz und gar außergewöhnlich zu sein.

Die Troglodyten der Möbiushöhle ernähren sich ausschließlich von Felswürmern; steinfressenden, bis zu einem Meter langen und fünf Centimeter dicken weißen Ringelwürmern. Sie verfügen aber über kein Wort, mit dem sie den Felswurm bezeichnen könnten. Stattdessen haben sie ein Wort, erpdetere, mit dem sie, indem sie es ausrufen, ausdrücken können, daß gerade kein Felswurm in Sicht ist. (Um sich etwas präziser auszudrücken könnte man vielleicht sagen, daß das Wort "erpdetere" zur Bezeichnung all dessen verwendet werden kann, das kein Felswurm ist.) Bei der Jagd auf diese Würmer behindert das die Troglodyten aber keineswegs, denn sie sind - in einem gewissen Sinne - gewohnheitsmäßige Lügner. Ruft es also aus einem Seitengang "erpdetere!", so ist dem ganzen Jagdtrupp augenblicklich klar, daß das Ausgerufene als falsch zu verstehen, ein Ringelwurm in Sicht und Eile geboten ist, denn so schnell, wie die Würmer auftauchen, verschwinden sie meist wieder; in manchen Fällen fressen sie sich auch plötzlich selbst auf, sodaß nicht die geringste Spur von ihnen übrig bleibt, außer dem schleimigen Loch, durch das sie sich in den Gang hineingefressen haben.

Neben den Felswürmern existieren in der Tiefe der Höhle auch die Dunkelwürmer, die sich durch die Dunkelheit hindurch fressen und Gänge aus Licht zurücklassen. Dieses Licht durchdringt nach und nach die es umgebende Dunkelheit, und so entsteht der allgegenwärtige Dämmerschein, der mir anfangs so unerklärlich war. Die Dunkelwürmer sind gefährlich; berührt man sie, so erstarrt man augenblicklich und unumkehrbar zu Stein. Die so entstandenen Frischen Felsen scheinen den Felswürmern besonders zu schmecken, weshalb sie meist nach ein bis zwei Tagen vollständig verschwunden sind. Das Wort "furilec" bezeichnet in der Sprache der Troglodyten alles das, was kein Dunkelwurm ist. Sobald man es ausgerufen hört weiß man, daß es geboten ist, sich in Sicherheit zu bringen. Ertönt auf der Jagd der Ruf "furilec du erpdetere!", wobei das darin vorkommende "du" so viel bedeutet wie das "oder" unserer Sprache, so wird man in der Regel Reißaus nehmen. Nur wenn die Felswurmjagd über lange Zeit hinweg erfolglos war, wird man sich dennoch vorwagen, und versuchen, den Felswurm unbeschadet zu erlegen.

Die weißlich-graue Siffraupe sieht dem Felswurm aus der Ferne ähnlich, verfügt aber anders als dieser über 587 Stummelfüße und ist völlig ungenießbar, da sie bei der geringsten Verletzung ihrer leicht borstigen Haut zu Sand zerfällt. Sie liebt es, durch die von den Felswürmern frisch gefressenen Gänge zu gleiten, wo sie sich von der Schleimspur der Würmer ernährt, bis sie sich irgendwann, fett und satt, verpuppt. Niemand weiß, was danach mit ihr geschieht. Manche bekannte Puppe soll bereits über 10000 Jahre alt sein, und niemand hat jemals eine Entpuppung beobachtet. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit ihm wird die Siffraupe öfters mit dem Felswurm verwechselt, weshalb man sich oft nicht ganz sicher ist, was man vor sich hat. In Momenten der Unsicherheit teilt man diese dem Jagtrupp meist durch etwa den Ausruf "erpdetere udk nomopilo!" mit. Die Bedeutungen des Wortes "udk" wird sich der Leser hier leicht selbst überlegen können, wenn er weiß, das mit "nomopilo" all das bezeichnet wird, was keine Siffraupe ist. Das gleiche gilt für die Bedeutung des Wortes opo, das etwa im Anschluß an letzgenannten Ausruf in der enttäuschten Mitteilung "opo erpdetere!" auftauchen könnte, nachdem sich das Tier endgültig als Siffraupe herausgestellt hat.

Ich verbracht, wie gesagt, gute zehn Jahre bei den Troglodyten, und auch als ich sie schließlich nahezu perfekt beherrschte, schien mir ihre Sprache noch immer fremd - und doch zur gleichen Zeit so vertraut, als wäre es meine eigene, als hätte ich nie eine andere gesprochen. Oft glaubte ich, alles sei mir völlig klar, ich hätte alles verstanden. Dann aber wieder wollten manche Wörter unversehens ihre Plätze tauschen, die Bedeutungen der Wörter schienen mir entlaufen oder ich wußte nicht mehr, obgleich mir die Sachverhalte ganz klar vorkamen, was wahr war und was falsch. Wie ein Traumbild entglitt mir stets dann, wenn ich beides klar fassen zu können glaubte, alles.

Nur ein einziges Wort blieb, fest und beständig, an seinem Ort und bedeutete, was es bedeutete; verneinend und ewig.

4 Kommentare

Von der Schleife ab in die Höhle zu finden, ist allein schon beachtenswert. Da lassen sich zu Ihrem Bestand im Land der Unredlichkeiten kaum mehr Worte finden, die der empfunden angemessenen Hochachtung gerecht würden.
Ihr einziges Wort, dessen Bedeutung sein Gegenteil einbegreift, möchte mir in Ungeduld nicht einfallen, (Ungeduld, weil ich mir sicher bin, es ist mir schon mal untergekommen.) Allein "Odysseus" kommt mir in den Sinn, aber das trifft es nicht ganz.

Danke für die netten Kommentare.

Besser als Wittgenstein paßt hier wohl Quine. Eigentlich ist das ganze nur eine einfache Illustration der Hauptthese aus Word and Object, basierend auf den Dualitäten der logischen Verknüpfungen.

Es hat sich übrigens, wie mir inzwischen aufgefallen ist eine kleine Unstimmigkeit in den Text eingeschlichen. Mal sehen, ob die jemand findet.

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