Hier hatte ich gefragt, wie das Genus (femininum, maskulinum oder neutrum) von "Leute" zu bestimmen sei. Diese Frage macht knifflig, daß im Deutschen die Paradigmen aller Genera im Plural zusammen fallen. Das gilt für Substantive, Adjektive und definite Artikel gleichermaßen. Somit ist nicht offensichtlich, wie man das Genus einer Nominalphrase (NP) im Plural bestimmen könnte, und "die Leute" ist nur im Plural erhältlich - Wortwitze wie "der/die/das Leut" haben bisher jedenfalls keinen wirklichen Einzug in die Umgangssprache gehalten.
Es ergibt sich aber tatsächlich eine Möglichkeit, das grammatische Geschlecht von "die Leute" herauszufinden. Man macht sich dafür ein sogenanntes Kongruenzphänomen zunutze. Wenn ein Kongruenzphänomen innerhalb eines Satzes vorliegt, so bedeutet das, daß bestimmte Ersetzungen oder Veränderungen eines Bestanteils des Satzes Ersetzung oder Veränderung eines anderen Bestandteils bedingen. Man kann das auch so ausdrücken, daß die kongruierenden Satzbestandteile gewisse Merkmale miteinander teilen müssen.
So muß im Deutschen beispielsweise das Subjekt eines Satzes mit dem finiten Verb des Satzes kongruieren - die sogenannte Subjekt-Verb-Kongruenz. Die Kongruenzmerkmale sind dabei Person und Numerus.
(1) | (a) | Der Priester | war | sehr erregt | |
3. Sg | 3. Sg | ||||
(b) | Die Priester | waren | sehr erregt | ||
3. Pl | 3. Pl | ||||
(c) | Du | warst | sehr erregt | ||
2. Sg | 2. Sg | ||||
(2) | (a) | * | Der Priester | waren | sehr erregt |
3. Sg | 3. Pl | ||||
(b) | * | Ich | warst | sehr erregt | |
1. Sg | 2. Sg | ||||
(c) | * | Die Priester | warst | sehr erregt | |
3. Pl | 2. Sg |
Die Fälle in (1) sind allesamt korrektes Deutsch und in allen Fällen stimmen die Kongruenzmerkmale des Subjektes und des finiten Verbs miteinander überein.
In (2) dagegen finden sich nur Sätze, die ganz klar ungrammatisch sind, und in allen Fällen wird die Kongruenzforderung verletzt: In (2a) hat das Subjekt die Merkmale 3. Sg, während das Verb die Merkmale 3. Pl trägt. In (2b) stimmen die Person-Merkmale von Subjekt und Verb nicht überein und in (2c) stimmen weder Person noch Numerus überein. Damit liegt keine Subjekt-Verb-Kongruenz vor und die Sätze sind ungrammatisch.
Derlei Kongruenzphänomene gibt es einige, und die Kongruenzmerkmale unterscheiden sich von Fall zu Fall. Um das Genus von "die Leute" herauszufinden wäre nun ein Kongruenzphänomen hilfreich, bei dem eine NP im Singular in Kongruenz mit einer NP im Plural steht und das Genusmerkmal eines der Kongruenzmerkmale ist. Solche Phänomene gibt es.
Zwei solche Fälle sind mir bekannt: Der eine betrifft das Quantifikativum "jed-" in seiner Verwendung als floating quantifier. "Jed-" steht immer im Singular, sodaß sein Genus prinzipiell erkennbar ist; und wie (3) illustriert, muß "jed-" in aller Regel das Genus-Merkmal der NP teilen, auf die es bezogen ist.
(3) | (a) | Die Tische | hatten | jeder | einen Kratzer | |
Pl mask | Sg mask | |||||
(b) | Die Türen | hatten | jede | einen Kratzer | ||
Pl fem | Sg fem | |||||
(c) | * | Die Tische | hatten | jede | einen Kratzer | |
Pl mask | Sg fem |
Man sieht in (3a,b), daß das im Plural gar nicht direkt erkennbare Genus der NPen "die Tische" (mask) und "die Türen" (fem) als Merkmal des Quantifikativums "jed-" wieder auftaucht. Daß das so sein muß, sieht man an (3c): Die feminine Form "jede" paßt nicht mit der Bezugsphrase "die Tische" zusammen, und der Satz ist somit ungrammatisch.
Parallel dazu verhält sich die Konstruktion "ein- nach d- ander-". Auch hier taucht das 'unsichtbare' Genus einer Bezugsphrase (die wie bei "jed-" nur im Plural stehen kann) an einem darauf in gewisser Weise bezogenen Singularausdruck wieder auf.
(4) | (a) | Die Tische | fielen | einer | nach | dem | anderen | zusammen | |
Pl mask | Sg mask | Sg mask | |||||||
(b) | Die Gerüste | fielen | eines | nach | dem | anderen | zusammen | ||
Pl neut | Sg neut | Sg neut | |||||||
(c) | * | Die Gerüste | fielen | eine | nach | der | anderen | zusammen | |
Pl neut | Sg fem | Sg fem |
Parallel zu "jed-" müssen hier die Elemente "ein-" und "d-" das Genus der Bezugs-NP wieder aufnehmen.
Es ist offenbar so, daß in gewissen Fällen neben der Übereinstimmung im Genus ersatzweise auch Übereinstimmung im natürlichen Geschlecht möglich ist, wie in (5).
(5) | Die Mädchen | beschuldigten | eine/eines | nach | der/dem | anderen den Priester |
genus: neut; sexus: fem | fem/neut | fem/neut |
In Fällen in denen kein vom Genus abweichendes natürliches Geschlecht vorliegt, ist aber die Forderung der Genuskongruenz absolut strikt, wie (3) und (4) illustrieren.
Nun kann man diese Erkenntnisse verwenden, um auf dem Umweg über die beschriebenen Genuskongruenzen das Genus von "Leute" herauszufinden, indem man "ein- nach d- ander-" und "jed-" in einem Satz auf "Leute" bezogen verwendet.
(6) | (a) | Die Leute wollten jeder ein Eis | |
(b) | ?? | Die Leute wollten jede ein Eis | |
(c) | ?? | Die Leute wollten jedes ein Eis |
(7) | (a) | Die Leute | veließen | einer | nach | dem | anderen den Raum | |
(b) | ?? | Die Leute | veließen | eine | nach | der | anderen den Raum | |
(c) | ?? | Die Leute | veließen | eines | nach | dem | anderen den Raum |
Während die Sätze mit maskulinen Formen völlig OK sind, erweisen sich die Sätze mit femininen und neutralen Formen als zumindest merkwürdig. Aus diesem Grund ist es naheliegend, anzunehmen, daß das Genus von "Leute" das Maskulinum ist.
17 Kommentare
Hm. Interessante Idee, aber wirkt auf mich eher so, dass du einfach nur deine vorgefasste Meinung selbst bestätigst.
Versteh mich nicht falsch, ich stimme dem Ergebnis zu, kann aber das Experiment, das dazu führt, nicht ganz überzeugend finden.
(In diesem Zusammenhang könnte ich vielleicht auch gleich mal mein Genus bestimmen, da mir gerade aufgefallen ist, dass dir dabei drüben ein (völlig verständlicher und von mir selbst verschuldeter) Fehler unterlaufen ist: Ich bin maskulin. Nicht, dass das besonders wichtig wäre, aber ich komme mir immer so unehrlich vor, wenn ich so einen Irrtum nicht korrigiere.)
Die Idee stammt ja nicht ursprünglich von mir, Tilman Höhle hat das teilweise in seinen Seminaren behandelt.
Was findest Du denn an dem Experiment nicht überzeugend?
Zu Deinem Hinweis: Danke! Mir war selbst schon aufgefallen, als ich die Stelle schrieb, auf die Du Dich beziehst, daß ich mir gar nicht sicher war, ob Dein Name in dieser Hinsicht eigentlich eindeutig ist. Kannte ich aber bisher nur als Frauenname.
Noch zur Klarstellung: Das grammatische Geschlecht kann sich ausschließlich in solchen Phänomenen wie den oben angesprochenen zeigen, und die Existenz dieser Phänomene ist der einzige Grund dafür, überhaupt die Existenz eines grammatischen Geschlechtes anzunehmen. Mehr, als in welchen Kongruenzbeziehungen sie sich wie zeigen, gibt es im Allgemeinen über die Genera der Substantive also gar nicht zu wissen.
@David: Erstens klingt "Die Leute wollten jeder" ein Eis für mich auch reichlich komisch. Zweitens und vor allem habe ich den Verdacht, dass "Die Leute wollten jede" bei Weitem nicht so komisch klänge, wenn wir nicht von vornherein von der Maskulinität ausgingen.
Der Name "Muriel" ist meines Wissens auch fast eindeutig weiblich. Irgendwie bin ich trotzdem bei dem Pseudonym gelandet. Manchmal muss man einfach mit dem Flow gehen...
OK, das wäre ein Argument. Wie sieht es mit "Die Leute holten sich einer nach dem anderen ein Eis" aus?
Was schließt Du daraus? "Der Tür ist offen" klingt ja wahrscheinlich aus nur seltsam, weil wir davon ausgehen, daß "Tür" feminin ist. Und diesen Umstand erfaßt man ja gerade mit dem grammatischen Geschlecht: Das man bei bestimmten Wörtern von bestimmten Kongruenzen ausgeht.
Was sagst Du im Übrigen zu diesen Sätzen?
(8)(a) Die Personen verließen eine nach der anderen das Schiff
(b) Die Personen verließen einer nach dem anderen das Schiff
@David: Ich will da gar keine große Diskussion draus machen, weil mir natürlich auch klar ist, dass die Genera unserer Substantive willkürlich festgelegt sind. Aber genau deshalb finde ich auch das Experiment überflüssig. Letzten Endes sagt dieser Versuch meiner Meinung nach aus: "Leute ist maskulin, weil wir das Gefühl haben, dass es maskulin sein sollte." Das ist nicht falsch, weil die Bedeutung von Sprache eben nur eine mehr oder weniger willkürlich festgelegt wird, aber es macht den Versuch eines experimentellen Belegs eher unnütz.
Zu 8: Obwohl ich weiß, dass "Person" feminin ist, wäre mir der Fehler in 8(b) vielleicht gar nicht aufgefallen, vor allem, wenn sich aus dem Kontext ergibt, dass die Personen männlich sind. Ich finde übrigens auch, dass es schrecklich klingt, wenn man den grammatischen Genus von "Mädchen" konsequent durchhält.
Von Bedeutung war hier doch nirgends die Rede. Im Übrigen ist es in der Mehrzahl der Fälle eher so, daß die sprachlichen Gesetzmäßigkeiten wilkürlich festgelegt sind, nicht daß sie es erst werden.
Kann ja sein, daß meine Wissenschaft eher unnütz ist, aber ich kann halt nix anderes. 🙂
@David: Na, jetzt wirst du aber ein bisschen nickelig, oder?
Ich habe nichts gegen Sprachwissenschaft gesagt, nur dass mir der Sinn eines Experiments nicht einleuchtet, das, soweit ich das erkennen kann, schon aufgrund seiner Konstruktion zwangsläufig die bereits gefasste Meinung bestätigen wird. Ich habe einfach nicht das Gefühl, das man damit etwas "bestimmt".
Nee, eigentlich gar nicht.
Das hieße ja, daß es eine vorgefaßte Meinung gegeben hat. Ich jedenfalls hatte, bevor ich diese Argumentation zum ersten Mal sah, keinerlei vorgefaßte Meinung zu diesem Thema, die Argumentation hat mich aber leidlich überzeugt.
Noch einmal (vielleicht) klarer dargelegt: Du bist, wenn ich Dich richtig verstehe, der Auffassung, daß man durch obige Argumentation nichts Neues erfahre, weil sich darin nur ein Wissen zeige, das man als Sprecher des Deutschen ohnehin hat, und sie deshalb unnütz sei.
Die Crux ist hier vermutlich die Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen.
Wenn man Leuten das Wort "Leute" vorlegt und fragt, welches Genus das habe, wird i.d.R. nicht zielsicher "maskulin" herbeiintuiert werden (behaupte ich jetzt mal so, das müßte man im Zweifel noch experimentell bestätigen). Erst durch die obenstehenden Daten wird diese Antwort nahe gelegt, und zwar dadurch, daß diese Daten in einer bestimmten Weise bewertet werden (als "korrektes" oder als "schlechtes" Deutsch), was ein Ausdruck impliziten Wissens ist, also eines Wissens, das Sprecher und Hörer befähigt, den 'Regeln' einer Sprache zu gehorchen, ohne diese Regeln auf Nachfrage ausbuchstabieren zu können. Und eine naheliegende Möglichkeit, sie auszubuchstabieren ist es eben, das Maskulinum als Genus von "Leute" anzunehmen. Was dann eben (jedenfalls innerhalb eines bestimmten grundlegenden theoretischen Rahmens) durchaus eine neue Erkenntnis darstellt.
Ich glaube, wir verstehen uns.
Die Unterscheidung zum impliziten Wissen ergibt natürlich schon Sinn, und wenn man das Experiment nur als ein Mittel sieht, dieses Wissen zu heben, ja, in Ordnung, dann passt es. Sehe ich ein.
Jetzt hätte ich gerne ein Zitat angebracht, dass ich ums Verrecken nicht wiederfinden kann. Es verspottet eine bestimmte (sprach?)philosophische Sichtweise, die wohl nicht zwischen implizitem und explizitem Wissen unterscheidet und somit verlange, dass [hier eine tongue-in-cheek Umschreibung von Paris Hilton einsetzen] [hier ein in Fachkreisen sehr bekanntes Theorem o.Ä. der Logik o.Ä. einsetzen] kennt. Kann mir da jemand weiterhelfen beim Wiederfinden?
We aim to please.
Die sprachphilosophische Richtung war da im Übrigen keine geringere als die Montague-Semantik mit ihrer Auffassung von Propositionen als die Mengen möglicher Welten, in denen die jeweilige Proposition wahr ist. Implikationsbeziehungen zwischen Propositionen lassen sich dann auf die Teilmengenbeziehung zurückführen (eine Proposition impliziert jede ihrer Obermengen). Damit ergibt sich dann, das beispielsweise sämtliche Tautologien dieselbe Proposition ausdrücken, nämlich einfach die Menge aller möglichen Welten.
Das unterscheidet sich aber auch nochmal vom Fall des impliziten Wissens über die Sprache. Letzteres ist ja einfach nur kontingentes Wissen darüber, wie man die Sprache korrekt verwendet. Es ist ein Wissen, daß ich zum einen tatsächlich habe, zum anderen aber nur in Form sprachlichen Handelns anwenden kann.
Logische Folgerungen, um die es Pollard ja geht, sind in der Hinsicht anders, daß sie einerseits in höchstem Maße analytisch und also notwendig sind, zum andern aber weit davon entfernt, immer präsent zu sein. Es ist ja z.B. nicht so, daß ich, wenn ich die Axiome von ZSF kenne, automatisch weiß, daß der Wohlordnungssatz mit dem Auswahlaxiom äquivalent ist, selbst wenn ich den Beweis nicht führen könnte. Dieses Wissen ist u.U. überhaupt nicht vorhanden, obwohl ich mit der Annahme der Axiome von ZSF (und natürlich der Prädikatenlogik) auch diese Folgerung mit unterschreibe.
Hahaha, da habe ich ja an der goldrichtigen Stelle nachgefragt. *schlägt sich vor die Stirn*
Verlangt das Asterisken-Circumfix nicht eigentlich den Erikativ?
Asterisken-Circumfix mit Erikativ ist heute häufig zu beobachten, vermischt aber meiner Ansicht nach zwei Dinge, die ursprünglich nicht zusammengehören - das eine aus der Chat-, das andere aus der Comicsprache. Ich habe das Asterisken-Circumfix glaubich um 1998 herum in webbasierten Chats kennengelernt. Wenn man da am Anfang einer Nachricht etwas in Sternchen setzte, wurde das vor den Doppelpunkt (oder war es eine schließende Winkelklammer?) gesetzt, sodass es als Satz zu lesen war:
Kamikater> Findest du auch?
Jodie85> Ja.
Kamikater tanzt auf dem Tisch> Das freut mich!
Das Vorbild für das Circumfix dürften Regieanweisungen sein, die ja auch nicht im Erikativ stehen. Sie stehen normalerweise in Klammern und kursiv - da man aber im Web nicht immer die Möglichkeit hat, etwas kursiv zu machen und nur Klammern die "Regieanweisungen" wohl nicht hinreichend vom "gesprochenen" Text absetzen würden, vermute ich, hat man stattdessen zu den Sternchen gegriffen.
Danke für die Ausführungen. Diese Funktion des Circumfix kannte ich noch gar nicht, das ist interessant. Aus dem IRC ist mir für solche Zwecke das - glaube ich, ist jetzt lang her - "/me" bekannt. Funktioniert das Circumfix da auch? Ich kannte es bisher wirklich fast nur mit Erikativ und als Hervorhebungsmittel, dann vergleichbar mit Kursivierung.