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Resteessen: Georg Walberts Brief an Vera Dimmers

Resteessen: Georg Walberts Brief an Vera Dimmers published on Keine Kommentare zu Resteessen: Georg Walberts Brief an Vera Dimmers

Auf meiner alten Uniwebsite faulen schon seit langem einige meiner Texte vor sich hin und dürften nur selten gefunden werden. Besonders witzig ist dabei dieser, den ich nun auch hier dem geneigten Leser präsentieren möchte:

Georg Walberts Brief an Vera Dimmers

Sehr geehrte Frau Dimmers,

vor einigen Tagen stürzte ich eine recht lange Treppe hinab und zog mir dabei ungewöhnlich grauenhafte Verletzungen zu. Jedoch wurde mir durch diesen Sturz einiges klar, das ich nun nicht mehr länger vor ihnen verbergen möchte und kann.

Das Ganze hat sich folgendermaßen zugetragen: Einigermaßen in Gedanken versunken hatte ich die oberste Stufe der Treppe nur mit der Ferse meines linken Fußes getroffen, weshalb dieser abrutschte, und sein Gelenk umknickte, überdehnte und brach. Infolgedessen kippte ich nach links um und schlug mit meinem Brustkorb heftig auf dem metallenen Treppengeländer auf, wobei drei meiner Rippen nachgaben, und sich einer der dabei entstandenen Splitter in mein Herz bohrte. Merkwürdig war dabei, daß der entstandene Schmerz mir sehr vertraut vorkam, als ob ich ihn bereits seit Monaten verspürt gehabt hätte. Er war nun lediglich, so schien es mir, deutlich konkreter als je zuvor.
Mir blieb nicht viel Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn vom Treppengeländer taumelte ich unverzüglich wieder fort, kippte vorn über und überschlug mich, während ich die zahlreichen Treppenstufen nach unten fiel, etliche Male. Dabei müssen einige Rückenwirbel leichten Schaden genommen haben, denn diese stießen immer wieder sehr hart mit den Kanten der Treppenstufen zusammen, und durch ungeschickte Haltung der Beine entstanden in diesen einige Brüche.
Hier sei, zum besseren Verständnis, angemerkt, daß am Ende dieser Treppe sich eine kleine Plattform befand, von welcher, lotrecht zur ersten, eine weitere Treppe hinabführte. Das Gleiche wiederholte sich am Ende der zweiten Treppe. Im Gebäude waren Bauarbeiten im Gange, und aus diesem Grund lagen am Ende dieser zweiten Treppe, über die zweite Plattform verlaufend, zwei Planken, die als Rampen für Schubkarren dienen sollten, mit welchen die Handwerker Werkzeuge und Arbeitsmaterial beförderten. Erst die sich an die zweite Plattform anschließende dritte Treppe führte endlich auf ebenen Boden.
Da die Plattform am Ende der Treppe, auf welcher mein Sturz seinen Anfang genommen hatte, natürlich auch von dem bereits erwähnten metallenen Geländer eingefaßt war, welches zwei horziontale Metallschienen aufwies, die eine etwa auf Knie-, die andere etwas über Hüfthöhe - beim stehenden Manne - wurde mein Sturz vorläufig gestoppt, als ich mit dem Kopf gegen die untere der beiden Schienen stieß. In eben diesem Moment, als ich das dumpfe Knacken meiner zerbrechenden Stirnplatte durch meinen ganzen Kopf dröhnen fühlte, wurde mir alles klar, so als wäre das sprichwörtliche Brett vor meinem Kopf zerborsten. Ich liebe Sie, Frau Dimmers, und ich werde Sie immer lieben! Bereits seit Monaten bin ich Ihnen verfallen, doch habe ich es lange nicht einsehen wollen. Jetzt aber ist mir alles klar geworden.
Mein Sturz war noch nicht beendet. Unfähig, mich abzustützen, rutschte ich langsam seitlich vom Geländer ab, wodurch ich nun begann, die zweite Treppe hinunterzurollen. Dies führte, wie ich denke, nicht zu vielen neuen Brüchen, jedoch verstärkte es die bereits vorhandenen, und auch der Rippensplitter bohrte sich etwas tiefer in mein Herz.
Am Ende der Treppe rollte ich auf die oben erwähnten Planken und auf ihnen weiter bis zum Rande der Plattform, wo ich unter dem Geländer hindurchrollte und sicherlich drei Meter tief gestürzt wäre, hätte sich mein linker Fuß nicht in einem Stromkabel verfangen, welches die Arbeiter am Geländer entlang nach oben geführt hatten, und das nahe der Plattform eine Schlinge bildete, welche meinen Fuß nun hielt. Da es mehrmals um das Geländer geschlungen war, zog es sich fest, glitt nicht ab, hielt meinen Fall somit auf und ließ mich kopfüber in der Luft baumeln. Recht abrupt abgebremst spürte ich, wie ein oder zwei meiner angeschlagenen Rückenwirbel durch die plötzliche, ruckartige Belastung meines Rückens endgültig zersplitterten und meinte sogar, ich nähme wahr, wie die in ihnen enthaltenen Nervenstränge barsten. Das war in diesem Moment gar nicht unwillkommen, denn damit endeten die Schmerzen, die meine Beine mir bereitet hatten.
Nun hing ich also zwischen Himmel und Erde wie eine Rinderhälfte im Schlachthaus und dachte nach, liebe Frau Dimmers, über Sie, und über die zärtlichen Gefühle, die ich schon seit vielen, vielen Wochen für Sie empfunden hatte. Meine Welt stand Kopf, und Sie waren der Grund dafür. Ohne Sie bin ich nur halb.
Irgendwann sah ich durch meine vom aus meiner Stirn sprudelnden Blute ganz verklebten Augen hinauf zu meinen Beinen. Zuerst glaubte ich, mein Geist spiele mir Streiche, meine visuelle Wahrnehmung sei getrübt, ich halluziniere! Doch dann fielen mir die zahlreichen Brüche meiner beiden Beine wieder ein, und dies beruhigte mich, soweit ich mich um meine Sinneswahrnehmung gesorgt hatte. Denn was ich sah war, daß mein linkes Bein sich mehr und mehr in die Länge zog. Das war jedoch nicht verwunderlich, da ja die stabilisierende Wirkung des Knochens weggefallen war, und also mein ganzes Körpergewicht von Muskelsträngen gehalten wurde, die sich entsprechend dehnten. Noch etwas fiel mir auf, und dies führte auch in Kürze dazu, daß mein bisher, von der klaffenden Wunde in meiner Stirn abgesehen, noch erstaunlich unversehrtes Gesicht nicht ganz so unversehrt blieb: Mehr und mehr von dem, was einmal mein Fußgelenk gewesen war, kam aus meinem kurzen Stiefel herausgequollen, da auch ihm die festigende Wirkung unversehrter Knochen abhanden gekommen war.
Mein Bein wie mein Fußgelenk, liebste Frau Dimmers, waren ebenso weich und formbar wie ich, der ich mich stets für unbezwingbar gehalten habe, es nun in Ihren lieblichen Händen bin.
Durch die leichte Pendelbewegung, in welcher ich mich befand, wurde das Hervorquellen meines Fußes aus dem Stiefel beschleunigt, und als ich mich gerade auf dem Höchstpunkt einer rückwärtsgerichteten Bewegung befand, verlor mein Fuß endgültig den Halt im Schuh, und ich näherte mich mit dem Gesicht zuerst dem Boden. Meine bis dahin noch nahezu unversehrten Arme dämpften den Fall, wobei sie selbst an etlichen Stellen brachen, und sämtliche Fingergelenke meiner rechten Hand, bis auf das des Daumens, zerbarsten; an der linken Hand blieben Daumen und kleiner Finger heil. Dennoch fiel ich hart genug auf mein Gesicht, wobei meine Nase nicht nur brach, sondern völlig eingeebnet wurde, und ich elf Zähne verlor.

Nun, heißgeliebte Frau Dimmers, liege ich im Krankenhaus, und das wird, fürchte ich, auch noch einige Zeit so bleiben. Mein linkes Bein war recht leicht abzunehmen, die merkwürdig sauberen Brüche und die starke Dehnung machten daraus eine Sache von kaum mehr als zwei kleinen Schnitten. Mein rechtes Bein hat da mehr Schwierigkeiten bereitet, da dort die Brüche stark gesplittert waren, und es lange brauchte, um sämtliche dieser Splitter aus der Amputationswunde zu entfernen. Doch was kümmert mich der Verlust zweier ohnehin nicht mehr kontrollierbarer Extremitäten, verglichen mit dem extremsten möglichen Verluste, dem ihrer noch ungewonnen Liebe? Glühend verehrte Frau Dimmers, mein Körper ist etwas zerschunden, aber meine Seele so heil und hoffnungsvoll wie nie zuvor. Verschmähen Sie mich nicht! Ruinieren Sie nicht auch noch meinen Geist, indem sie mich ablehnen! Ich tippe dies unter Schmerzen, nur mit dem kleinen Finger meiner linken Hand und dem Daumen der rechten, beide Arme in Gips, und nie habe ich etwas so ernst gemeint: Liebe Frau Dimmers, bitte werden Sie meine Frau!

In ewiger Liebe

Georg Walbert

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