Ich nehme gelegentlich mit Verwunderung zur Kenntnis, daß noch immer gerne die folgende Formulierung als die Lügner-Antinomie vorgestellt wird:
Gesprochen von einem Kreter:
(*) Alle Kreter sind Lügner
Es wird folgendermaßen argumentiert:
(#) Nehmen wir an, die Aussage sei wahr; dann muß sie, da sie von einem Lügner geäußert wird, falsch sein. Dann aber muß sie wahr sein.
In dieser Argumentation finden sich gleich zwei bedeutende Fehler. Zunächst stellt sich nämlich die Frage: Was ist ein Lügner? Ist es jemand, der (a) immer lügt, jemand der (b) gewohnheitsmäßig lügt oder jemand, der (c) mal gelogen hat? Der erste Schritt der obigen Argumentation (#) kann nur dann gelingen, wenn man (a) voraussetzt: Ein Lügner lügt mit jeder seiner Aussagen. Andernfalls kann man nämlich einfach annehmen, daß jeder Kreter mal lügt, also (c) erfüllt, oder daß jeder Kreter gewohnheitsmäßig lügt, also (b) erfüllt, der Äußerer von (*) jedoch gerade im Falle dieser Äußerung einmal nicht lügt. Dann wäre (*) wahr. (1) läßt sich also paraphrasieren als:
(**) Alle Kreter lügen immer (wenn sie eine Aussage machen)
[Nachtrag: Laut Wikipedia lautet Epimenides' ursprüngliche Aussage wie folgt: „Alle Kreter sind Lügner und alle von Kretern aufgestellten Behauptungen sind Lügen“, krankt also nicht an diesem Problem, jedoch an dem weiter unten geschilderten.
Nachtrag 2: Die fehlende Definition von "Lügner" ist außerdem nicht unbedingt als Fehler zu bezeichnen, wie ich es getan habe, sondern eher als Mangel.]
Nun gelingt der erste Schritt der Argumentation (#): Unter der Annahme (*) sei wahr, müssen wir schließen, daß der Kreter, der (*) äußert, mit dieser Aussage lügt. Damit hat man aber noch keine Antinomie, sondern lediglich die Feststellung, daß die Aussage nicht wahr sein kann. Erst dann, wenn man auch zeigen kann, daß die Aussage nicht falsch sein kann, ist nachgewiesen, daß es sich um eine Antinomie handelt. Also geht man jetzt von der Annahme (~) aus:
(~) Es ist falsch, daß alle Kreter immer lügen
(*), in der Interpretation (**), ist falsch genau dann, wenn (~) wahr ist. Aber wann ist (~) wahr? Offenbar, genau dann, wenn es mindestens einen Kreter gibt, der nicht immer lügt:
(~~) Es gibt wenigstens einen Kreter, der nicht immer lügt
Hier sollte bereits deutlich werden, daß sich (#) kaum zu ende wird bringen lassen; Man kann aber auch noch (~~~) folgern:
(~~~) Es gibt wenigstens einen Kreter, der wenigstens einmal nicht gelogen hat
(Wobei hier vorausgesetzt sei, daß nur die Vergangenheit relevant ist, also nicht die Frage, ob es einen Kreter gibt oder geben wird, der zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt einmal nicht-lügen wird.)
Jetzt wird völlig klar, daß der Schluß auf die Wahrheit von (*) durch die Annahme der Wahrheit von (~) nicht möglich ist: (~) ist schon wahr, wenn irgendein Kreter jemals nicht gelogen hat; das könnte auch der sein, der (*) äußert: Im Falle von (*) äußert er eine Lüge, aber das macht ihn noch nicht zum Lügner, denn um in der Argumentation überhaupt erst den Anfang machen zu können, mußte schon angenommen werden, daß ein Lügner immer lügen muß, wenn er eine Aussage macht. Und selbst wenn der Äußerer ein notorischer Lügner wäre, der tatsächlich immer lügt, würde das nichts ändern, denn es könnte ohne Weiteres das Folgende zutreffen: Der Äußerer ist ein Lügner und die Aussage (*) falsch, da es auch Kreter gibt, die nicht immer lügen. Nirgends läßt sich hier also die Wahrheit von (*) herleiten.
Daß sie sehr oft in dieser nicht stichhaltigen Form angeboten wird, heißt jedoch nicht, daß es die eigentlich intendierte Antinomie gar nicht gebe, denn: Der letzte Satz in diesem Artikel ist falsch.