Gestern hat die Bundesregierung den Weg frei gemacht für die Strafverfolgung Jan Böhmermanns nach §103 StGB und gleichzeitig die Abschaffung dieses Paragraphen angekündigt. Die Streichung soll 2018 in Kraft treten.
Es ist zumindest denkbar, daß das Urteil in einem etwaigen Verfahren nicht vor der Abschaffung von §103 gesprochen wird. Sollte der Paragraph zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr existent sein, griffe §2 Abs. 3 StGB:
Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.
Was ist aber das mildeste Gesetz? Mir schien die Antwort zunächst (und ohne viel Nachdenken) klar: §185 StGB, der allgemeinere Beleidigungsparagraph. Das ist aber näher betrachtet gar nicht klar; worauf sich §2 Abs. 3 vornehmlich beziehen dürfte, sind Änderungen des Strafmaßes: wird die Strafdrohung eines einschlägigen Paragraphen vor der Entscheidung heraufgesetzt, so gilt die Strafdrohung zum Tatzeitpunkt. Wird sie heruntergesetzt, so gilt die Strafdrohung zum Entscheidungszeitpunkt. Es geht also (zumindest in erster Linie) nicht um andere einschlägige Paragraphen sondern um Veränderungen im Stafmaß ein und desselben Paragraphen:
@hllizi @joschasauer Der §2 bezieht sich aber nur auf die Änderung der Strafe - nicht auf die Strafbarkeit bzw. den Straftatbestand.
— Rutziporiu (@rutziporiu) April 16, 2016
Die Frage, welche Konsequenzen sich im Fall Böhmermann ergeben dürften, ist nun für mich als Laien einigermaßen faszinierend, und ich würde mich freuen, wenn sich Juristinnen oder Juristen finden würden, die sie beantworten können. Entscheidend scheint mir, wie die Regel, daß das speziellere Gesetz das allgemeinere verdrängt exakt zu interpretieren ist. Ich sehe zwei Möglichkeiten:
- Greift ein spezielleres Gesetz neben einem allgemeinen, so ist das allgemeinere zu behandeln, als habe es zum Tatzeitpunkt nicht existiert. D.h. der Tatbestand, den das allgemeinere Gesetz regelt, ist nicht efüllt.
- Greift ein spezielleres Gesetz neben einem allgemeinen, so ist sind zwar beide Tatbestände erfüllt, aber nur der durch das speziellere Gesetz geregelte kann tatsächlich zur Strafe führen.
Die Unterscheidung mag haarspalterisch wirken, dürfte im gegebenen Fall aber von größter Bedeutung sein: Im ersten Fall käme nach der gestrigen Ermächtigung nurmehr §103 als Urteilsgrundlage in Betracht; es wäre, als ob §185 nicht existierte. Ein Wegfall von §103 vor der Entscheidung würde damit den Wegfall jeglicher Rechtsgrundlage für eine Verurteilung bedeuten. Im zweiten Fall wäre nach dem Wegfall von §103 noch immer der Tatbestand aus §185 erfüllt, und da dieser dem Strafmaß nach ein milderes Gesetz als §103 darstellt, wäre eine Verurteilung nach wie vor möglich.
Wenn die erste Variante zutreffen sollte, so muß man die Bundesregierung zu diesem juristischen Hack zweifellos beglückwünschen. Daß dem so sei scheinen mir auch diese Tweets nahezulegen bzw. zu behaupten:
@RAStadler @HenningEMueller @feldblog Man ermächtigt und schafft dann die Norm ab. Es greift § 2 III StGB. Vielleicht ist das der Masterplan
— Christian Conrad (@RA_Conrad) April 15, 2016
@hllizi Nein. 103 war zum Zeitpunkt der Tat Straftatbestand. Nur das zählt. (Wobei er wohl nicht erfüllt wurde) @joschasauer
— Rutziporiu (@rutziporiu) April 16, 2016
3 Kommentare
Ist es nicht so, dass schon die Anklage sich auf entweder das eine oder das andere Gesetz bezieht? Im Falle einer Anklage nach § 103 und Abschaffung desselben vor der Entscheidung wäre dann „das mildeste Gesetz“ die Version, in der er nicht existiert, und müsste die Entscheidung ein Freispruch o.Ä. sein. Aber IANAL.
Die Idee wäre dann, daß nur eine Änderung der Beweislage das Umschwenken auf einen anderen Paragraphen erlauben würde, nicht aber eine Änderung der Rechtslage, oder? Zwischen Mord und bloßem Totschlag z.B. wird man ja wechseln können müssen, falls die Beweisaufnahme etwas entsprechendes hervorbringt.
Kann gut sein, daß das tatsächlich so ist. Käme extensional dann wahrscheinlich auf dasselbe raus, wie die erste oben genannte Möglichkeit, oder?
Allgemein gilt: Die Anklage bezieht sich auf eine bestimmte "Tat". Falls die rechtliche Einschätzung der StA widerlegt wird oder sonst nicht mehr zutrifft, wird der Angeklagte darauf hingewiesen, dass nun auch eine andere Norm in Betracht kommt, falls der neue rechtliche Gesichtspunkt in der Anklage nicht enthalten war (§ 265 StPO). Ich würde im Fall J.B. ohnehin beide Normen in der Anklage nennen (Tateinheit). Wird ein Strafgesetz gestrichen, ist die Nichtexistenz das mildeste Gesetz. Es gilt dann der Tag der Entscheidung, nicht der Tatzeitpunkt (anders als @hllizi meint). Das hat mit § 185 StGB wiederum nichts zu tun, außer, dass dann eben § 185 StGB zur Anwendung kommt (falls man der Ansicht ist, § 185 StGB sei zuvor gesetzeskonkurrierend verdrängt worden).